Wochenspruch zum Erntedankfest: „Aller Augen warten auf dich, und du gibst ihnen ihre Speise zur rechten Zeit.“ (Psalm 145, 15) 

Liebe Freundinnen und Freunde unserer Kirchengemeinden!

Stimmt das?

Ich mag dies alte Psalmwort, und am liebsten höre ich es gesungen. „Aller Augen warten auf dich…“ Doch spätestens bei der nächsten Zeile habe ich immer auch ein komisches Gefühl. „Du tust deine milde Hand auf und sättigst alles, was lebt, nach deinem Wohlgefallen.“ Jedes Mal denke ich, dass das doch nicht stimmt. Die meisten Menschen auf der Welt warten viel zu lange darauf, dass sie gesättigt werden; etwa 20 Millionen Menschen sind vom Hungertod bedroht. Und das geschieht ja nicht nach Gottes Wohlgefallen. Wie sollen wir das also verstehen?

Was hat sich wohl der Mensch gedacht, der diesen Psalm aufschrieb, damals im alten Israel… Der kannte doch Dürrezeiten und Hunger, und zwar besser als ich und meine Generation hier in Deutschland. Er muss gesehen haben, dass nicht immer alle genug zum Leben hatten. Und trotzdem schreibt er diesen Psalm, der sich anhört, als ob alle aufs Beste versorgt wären! Wie meint er das?

Zunächst mal dankt er Gott für alles, was die Erde für die Menschen hergibt. Er glaubt daran, dass es für alle reicht. Und indem er das glaubt und bekennt, verpflichtet er sich selbst, dementsprechend damit umzugehen. Das heißt nicht, dass er etwa entscheiden musste, ob und wie viel er spendet. Es gab in Israel klare Gebote und Regelungen, die sicherstellen sollten, dass alle zumindest das Lebensnotwendige haben. Zum Beispiel sollte von vorneherein nicht alles abgeerntet werden. Ein Teil sollte stehen bleiben, damit diejenigen sich davon ernähren konnten, die kein eigenes Land hatten, Witwen oder Ausländer und Ausländerinnen. Die Menschen wussten: das, was wir ernten, verdanken wir nicht uns selbst, es ist eine Gabe Gottes für alle. Gott zu danken und das, was die Erde gab, nicht bloß als eigenen Besitz zu sehen, sondern möglichst gerecht zu verteilen – das gehörte zusammen. 

Natürlich haben sich auch damals manche bereichert auf Kosten anderer. Die einen mussten sich verschulden und die anderen haben nur zu gern davon profitiert. Aber das wurde nicht hingenommen: Es gab Gebote, die den Armen zu ihrem Lebensrecht verhalfen, und es gab Feste, die daran erinnerten, dass alles von Gott kam. Wenn diese Feste gefeiert und die Gebote eingehalten wurden, dann konnten die Menschen zu Recht singen und beten: „Du, Gott, sättigst alles, was lebt“.

Feiern wir Erntedank? Wenn geschmückte Kirchen nur an frühere Zeiten erinnern sollen und ein Leben auf dem Land romantisieren, das es so längst nicht mehr gibt, verfehlt das unsere Lebenswirklichkeit genauso wie den Sinn des Erntedankfestes. In der Christuskirche wird schon seit Jahren nicht mehr geschmückt; es gab keine Spenden mehr dafür und keiner der Gottesdienstbesucher/-innen hat auch nur entfernt mit Landwirtschaft zu tun (ich habe das einmal abgefragt). Aber ob nun mit oder ohne Erntegaben: Jahr für Jahr werden wir in dieser Zeit erinnert, dass das, wovon wir leben, kein selbstverständlicher Besitz ist.

Und Jahr für Jahr werden wir vor die Frage gestellt: wie können wir das, was die Erde gibt, gerecht verteilen? Wie schonen wir die Ressourcen? Wie hinterlassen wir die Erde einmal unseren Kindern?

Stefanie Rieke-Kochsiek