„Wunderbar sind deine Werke, das erkennt meine Seele.“
(Ps 139,14; Monatsspruch August)

Letzter Tag im Schulvikariat. Im Kollegium kam der Wunsch auf, dass ich mich mit einer Orgelführung in der nahen Kirche von den Schülerinnen und Schülern verabschiede. Sie kommen klassenweise auf die Empore. Sie sind aufgeregt. Die Umgebung ist ungewohnt. Ich ziehe ein leises Register und spiele ein Lied. Es wird still auf der Empore. Ich erzähle ein paar Dinge über den Aufbau einer Orgel und dass man sie die „Königin der Instrumente“ nennt. Wer möchte, darf sich auf die Orgelbank setzen und einzelne Tasten drücken, während ich verschiedene Register ziehe. Am Ende spiele ich ein schwungvolles Präludium von Bach. Tutti. Alle Register, Hände und Füße. Volles Programm! Hinter mir ist es mucksmäuschenstill. Das Stück ist zu Ende, ich drehe mich um und muss schmunzeln. So ungewohnt ist das Bild, dass diese Jugendlichen, bei denen ich mir oft nur mühevoll hatte Gehör verschaffen können, mit offenen Mündern vor einer Kirchenorgel sitzen. Henry findet als erster seine Sprache wieder: „Krass, die ist ja noch viel lauter als wir!“

Als ich später nach Hause fahre, denke ich: „Das war so etwas wie Ehrfurcht. Ehrfurcht in der Sprache von Jugendlichen: Krass!“

Auch der Beter des 139. Psalms empfindet Ehrfurcht. Aber sie verschlägt ihm nicht die Sprache, im Gegenteil: Sie löst ihm die Zunge, weckt poetische Worte und kraftvolle Bilder. „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen. (…) Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.“ Ob sprachlos oder poetisch beflügelt – im Gefühl sind sich Henry und der Psalmbeter nah: Ehrfurcht. Da sind Klänge, die sind lauter als ich. Da ist Einer, der ist größer als ich, der ist schon da, wo immer mich das Leben hinführt. Die Erkenntnis der Größe Gottes führt den Psalmbeter in das Staunen über das Wunder des eigenen Lebens: Ich danke dir, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.

Mirko ist einer der Stillen in seiner Klasse. Ein bisschen schüchtern, ein bisschen ängstlich und ziemlich sensibel. Auch ihm hat der Klang der Orgel die Sprache verschlagen. Aber dann kam der Wunsch, Orgelspielen zu lernen. Mirko hat ihn tatsächlich in die Tat umgesetzt. Das Lernen ist mühsam, aber er gibt nicht auf, bis seine Füße in den Trekkingsandalen die richtigen Pedale gefunden haben.

Ehrfurcht führt uns in eine Sprache, die nicht die Sprache unseres Alltags ist. Schweigen, Poesie oder Musik. Mirko hat seine Sprache gefunden. Suchend bewegt er seine Finger auf den Orgeltasten. Seine Augen leuchten. Dort auf der Orgelbank ist sein Platz. Auf seine Art stimmt er ein in das ehrfürchtige Staunen des 139. Psalms: „Wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.“

Pfarrerin Dörte Vollmer