Predigt am 1. Sept. 2024
Malte Thießen2024-09-03T21:03:53+02:00Vor einer Woche hat die Lippische Landeskirche veröffentlicht, dass es in den Jahren 1972 – 1980 in der Gemeinde Detmold-West durch Friedrich B., einen der Pfarrer, wiederholt zu sexualisierter Gewalt gekommen ist. Die Presse hat berichtet. Wir sind erschüttert – über die Vorfälle und darüber, dass die damalige Kirchenleitung davon gewusst hat und den Betroffenen nicht geholfen hat.
Die Predigt am 1. Sept. nimmt darauf Bezug.
Predigttext:
Und Jesus blies sie an und spricht zu ihnen: Nehmt hin den Heiligen Geist! Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten. (Joh.20,22f)
Meine Geschwister, gegen Ende des Johannesevangeliums wird beschrieben, wie Jesus seinen Jüngern den heiligen Geist gibt. Er haucht sie an und schenkt ihnen damit den Geist. Der Geist Gottes soll es ihnen ermöglichen: zu vergeben und Sünden zu bewahren. Sie können mit dem Geist Gottes unterscheiden: Wann muss einem Menschen die Tür zum Neuanfang öffnen. Und wann muss ich sagen: „Ich behalte deine Sünde als etwas Unverzeihliches.“ Jesus ermächtigt Menschen zur Vergebung und dazu, nicht zu vergeben – zu beidem.
In der Kirche haben wir uns angewöhnt, nur noch den ersten Teil dieses Jesuswortes für relevant halten. Wir glauben oftmals, dass Gott alles vergibt, ja, dass er verpflichtet ist, uns immer zu vergeben. Wir sagen, dass Jesus ja genau deswegen zu uns gekommen ist. Und nun also Jesus, der hier so anders spricht. Er ermächtigt, in manchen Situationen zu vergeben und in anderen nachtragend zu sein. Und er gibt uns seinen Geist, damit wir wissen, wann wir zu vergeben haben und wann nicht.Es ist wie immer bei Gott. Er entlässt uns nicht aus der Verantwortung. Er nimmt ernst, dass Menschen sündigen und dass Menschen damit umgehen müssen und können. Er traut uns zu, dass wir wissen und fühlen, wann was richtig ist. Er weiß, dass Gottes Geist uns lehren wird, was wann richtig ist.
Vielleicht können wir aus der gegenwärtigen Situation etwas lernen. Wir haben erfahren müssen, dass es in Detmold-West vor vielen Jahren, in der Zeit zwischen 1972 und 1980, Fälle von sexualisierter Gewalt durch einen Pfarrer gegeben hat. Es war in der Zeitung zu lesen. Manche werden sagen: „Ja, das ist schrecklich, aber es ist so lange her!“ Und sie meinen, die Zeit heilt alle Wunden. Und vielleicht meinen sie auch, dass so etwas geschehen wird, solange es Menschen gibt. Vielleicht haben sie sogar die große Selbsteinsicht, dass niemand davor gefeit ist, schreckliche Dinge an anderen zu tun. Hat nicht Jesus gesagt, dass nur derjenige, der ohne Schuld ist, den ersten Stein werfen kann?
Manche werden sagen: „Man muss auch vergeben können!“ Und sie haben im Hintergrund vielleicht die Lebenserfahrung, dass es das Leben vor Verbitterung schützen kann, wenn man vergibt.
Manche werden einfach den Kopf schütteln und sagen: „Wir haben es schon immer gewusst, die in der Kirche…!“ Und sie sagen indirekt, dass sie von uns Menschen, die wir zu Jesus und Gott gehören, etwas anderes erwarten. Vielleicht aber sind sie auch froh, dass sie auf die Kirche schimpfen können, und es nicht ihren Sportverein oder Schützenclub trifft. Und dann wollen sie sich einem gesellschaftlichen Problem nicht stellen.
Können wir uns eine Reaktion Jesu vorstellen? Wie geht Jesus damit um? Nun, wenn wir auf das Wort hören, dass er seinen Jüngern gibt, auf jene Vollmacht, dann wird er wohl denjenigen, die Opfer geworden sind und die das, was mit ihnen gemacht wurde, nicht vergessen können, den Rücken stärken. Er wird bei ihnen gesessen haben und die Tränen und den Schmerz mitgefühlt haben. Er wird geholfen haben, zu verdrängen, um zu überleben. Er wird gehört haben, was die Opfer im Herzen gesagt und geschrieen haben. Er wird die Scham über das, was ihnen angetan wurde, mit getragen haben. Er wird nicht allein gelassen haben. Und er ermächtigt, nicht zu vergeben. Und irgendwann ermutigt er, den Mund aufzutun. Vielleicht haben Betroffene das gar nicht mitbekommen oder so erlebt. Vielleicht haben sie nur gespürt, da ist etwas, was trägt und mich ertragen und leben lässt. Für mich zeigt sich in all dem der Gott, der in Christus mit den Opfern geht.
Ich bin froh, dass Betroffene den Mut finden, sich zu äußern. Es zeigt sich darin jener Geist, den Jesus den Menschen verheißt: der Geist, der der Schwachheit aufhilft und der Menschen seufzen und schreien lässt. Ich bin dankbar dafür aus mehreren Gründen:
1. Weil reden können auch befreit und ich hoffe, dass Betroffene Zuhörer*innen gefunden haben.
2. Weil sie uns als Gemeinde, Kirche und Gesellschaft durch das Erzählen an ihren Erfahrungen teilhaben lassen und Möglichkeiten eröffnen, genau hinzusehen. Ohne Betroffene und ihr Reden gäbe es keine Schutzkonzepte gegen sexualisierte Gewalt. Sie haben das Schweigen gebrochen, dass in unserer Gesellschaft herrschte.
3. Sie geben die Möglichkeit zur rechtlichen Aufarbeitung. Was Menschen angetan worden ist, muss auch diese Seite der Aufarbeitung erfahren. Und das betrifft zum einen die Täter*innen, zum anderen aber auch die, die die Taten gedeckt oder vertuscht haben.
4. Da, wo Täter*innen noch leben, werden diese mit ihrem Tun konfrontiert – und mit dem Leid. Sie bekommen die Chance, sich anrühren zu lassen – mit all dem, was das für sie bedeuten kann und
muss. Es ist Unverzeihliches geschehen und durch das Reden von Betroffenen müssen Täter*innen sich stellen, innerlich ihrem Gewissen und hoffentlich auch ihrer Verantwortung.
5. Nicht alle Betroffenen können reden. Und niemand darf gezwungen sein oder sich gezwungen fühlen. So sind diejenigen, die sprechen, Stellvertreter*innen. Mit jedem Einzelnen bekommen alle eine Stimme. Der Geist Jesu, der manche Menschen zum Sprechen bewegt, hilft anderen, im Schweigen zu bleiben. Er ist ein Geist der Freiheit und kein Zwangsgeist.
Es mag schon angeklungen sein, was denn nun mit denen ist, die Täter*innen sind. Und mit Täter*innen sind auch die gemeint, die zugeschaut haben, die nicht geholfen haben oder die, wie die damalige Kirchenleitung, vertuscht haben und neue Straftaten ermöglichten. Sie haben Unverzeihliches getan und Jesus ermutigt, das Unverzeihliche auch so zu benennen und zu behandeln. „Wem ihr die Sünden behaltet…“. Genau das ist die Chance der Täter*innen. Ich bin mir sicher, dass Jesus auch bei ihnen ist. Ich hoffe, er sendet ihnen hin und wieder einen bösen Traum. Er lässt das schlechte Gewissen bohren. Er lässt sie in dem Dilemma stecken zwischen Fassade und Verborgenem, in dem Wissen, dass sie etwas tun, was unverzeihlich ist. Ich hoffe, er sorgt dafür, dass sie nicht abstumpfen. Ich hoffe, dass es für Täter*innen Wege gibt – auch wenn ich sie mir nicht vorstellen kann. Ich hoffe, sie spüren, dass ihnen nicht vergeben ist. In all dem ist er bei ihnen – und auch da ist es so. Der Geist Jesu zwingt nicht. Der Geist Jesu ist voll Geduld. Ich kann das nicht gut ertragen, aber es ist so. Aber ich weiß: Jesus wird dem Gespräch ihres Herzens geduldig zuhören. Und vielleicht ist es das, was sie brauchen – einen Menschen, der in ihre Abgründe schaut und das aushält. Vielleicht müssten wir auch ein Begleitkonzept für Menschen haben, die um ihre Abgründe wissen – nicht um sie zu schützen bei Bösem, was sie tun. Sondern um Menschen jene Hilfe Gottes zu zeigen, der sich nicht abwendet. Vielleicht braucht es auch Ansprechstellen für Täter*innen.
Was für eine Kraft, und was für ein Potential steckt im „Sünden behalten“! Was für eine Energie kann das Aussprechen dessen, was jemand an Unverzeihlichem getan hat, entfalten. Jesu ruft uns auf zu vergeben und zu behalten. Jesus ist kein „Schwamm drüber“-Mann. Und er gibt diesen Geist weiter an uns.
Amen
Maik Fleck, Pfr.; Ev.ref.Kirchengemeinde Detmold-West und Ev.ref.Kirchengemeinde Hiddesen