Leben und Glaube – in dieser neuen Kategorie werden wir das Schwerpunktsthema des aktuellen Gemeindebriefs mit Ihnen diskutieren und vertiefen. Sie haben die Möglichkeit eigene Beiträge zu verfassen, die wir dann an dieser Stelle veröffentlichen werden. Bitte senden Sie Ihre Beiträge an Maik.Fleck@kirchedetmoldwest.de. Danke!

Brauchen wir das Alte Testament?

Theologische Einleitung durch Pfarrer Maik Fleck

Immer wieder flammt in der Kirche die Diskussion darüber auf, wie mit dem Alten Testament umzugehen ist. Zuletzt hat Prof. Dr. Notger Slenzka in diesem Frühjahr die Frage gestellt, was aus dem Alten Testament für die Kirche zu gebrauchen ist und ob es nicht für weite Teile in der Kirche aufzugeben ist. Was am Alten Testament von Christus her zu verstehen ist, das soll Bestand haben, alles andere nicht. Prof. Slenzka beschreibt damit zunächst nur die Art, wie ganz oft mit dem Alten Testament umgegangen wird: Wir suchen uns aus, was uns anspricht oder gefällt. Wir nehmen die Psalmen, die Geschichten von Abraham und Sara und den anderen Voreltern, die Befreiung aus Ägypten, ein paar Prophetenworte, die Psalmen und den Segen. Alles andere fällt weg.

Ich glaube, dass die Entscheidung der Kirche, das Alte Testament komplett zu übernehmen, eine gute Entscheidung war. Natürlich ist das Alte Testament und die Texte darin unseres – es ist, selbst in seiner Gestalt als Altes Testament ein jüdisches Buch. Es ist geschrieben von und für jüdische Menschen. Es erzählt von ihren Erfahrungen mit einem Gott, der uns zunächst einmal fremd ist. Mit dem Alten Testament bleibt eine besondere Erfahrung bei mir wach: Ich glaube an einen fremden Gott. Ich bete, wenn ich Psalm 23 spreche, mit fremden Worten.
Mir eröffnet das einen großen Horizont. Glaube ist weiter als meine christliche Heimat in ihm. Glaube war schon vor uns Christen da und ist neben uns Christen da, mindestens im jüdischen Volk. Ich stehe vor Gott nicht in erster Reihe, und ich stehe nicht allein da.
Mit mir glauben andere, anders. Sie leihen mir ihre Worte. Altes Testament ist eine Leihgabe. Wir haben vielleicht schon deshalb gar nicht die Möglichkeit, es abzuschaffen in der Kirche.
Und: Es bringt immer wieder das Fremde ein in unsere Kirche. Es sagt uns – Du musst grundsätzlich offen sein.

Ein zweites Moment ist mir wichtig. Ich lese im Neuen Testament, wie Jesus das Alte Testament, eben seine Bibel als Jude liest. Er lässt sie sich in der Synagoge in Kapernaum geben, liest vor und legt aus. Er streitet mit anderen Schriftgelehrten um den Sinn und die Auslegung und die Lebensweise. Er zitiert seine Bibel. Jahrhunderte haben versucht, mit den Mitteln der Historiker bis zu den eigensten Worten Jesu vorzustoßen. Es gelingt nicht. Hier aber, wenn Jesus seine Bibel vorliest – hier haben wir seine eigene Stimme.

Und – noch ein Drittes: im Alten Testament begegnet etwas, ohne dass ich das Neue nicht hätte. Das ist die Erfahrung des einen Gottes. Aber ist auch die Erfahrung, dass wir etwas Neues über Gott nur ausdrücken können, indem wir das alte zur Hilfe nehmen. Schon im Alten Testament begegnet uns das. Gott führt sein Volk aus Ägypten. Und als er es Jahrhunderte später aus der Gefangenschaft in Babylon befreit, ist es, als erzählte man die alte Geschichte von der Befreiung aus Ägypten neu.
Und als man im Neuen Testament sagen will, was das Besondere und Neue an Jesus ist, greift man auf diese alten zwei Geschichten und viele andere  zurück und erzählt wieder aufs Neue, nun, dass Gott aus der Knechtschaft der Sünde und des Todes befreit. Es ist eine neue Geschichte ja, aber man kann sie nur mit den alten Erfahrungen erzählen.
Und die alten Erfahrungen sind immer noch da – im Alten Testament. Und sie haben nichts von ihrem Potential verloren, sondern warten darauf, dass es im Leben immer eine neue Geschichte von der Treue des alten Gottes zu erzählen gibt.

Darum – Altes Testament, ja sicher.

Was bedeutet mir das Alte Testament? – Gertrud Wagner

Ich schlage meine Bibel auf und sehe mir die Urgeschichten an. Es überrascht mich immer wieder, dass sie versuchen, auf Fragen Antworten zu geben, die ich, die ich 2 ½ Tausend Jahre später als die damaligen Verfasser lebe, genau so habe wie sie damals. Die erste Frage heißt: Wie ist unsere Erde entstanden? Darauf geben der erste und der zweite Schöpfungsbericht eine Antwort. Die Antworten darauf sind damals wie heute Glaubensaussagen: Gott ist der Schöpfer. Damit grenzt sich die Bibel von anderen Mythen und Göttern ab. Sie gibt mir aber auch angesichts immer neuer, manchmal bedrängender naturwissenschaftlicher Erkenntnisse (z. B. der Hirnforschung) eine gewisse Souveränität und Zuversicht: Gott ist der Herr.

Ich blättere weiter in meiner Bibel und komme zu den nächsten Fragen, die mich mit den Menschen des AT vor 2500 Jahren verbinden: Woher kommt das Böse, woher die Gewalt, woher Mord, woher von Menschen gemachte und woher Naturkatastrophen? Hierauf gab es damals wie heute keine einfache Antwort, aber doch einen Leitfaden: Der Mörder Kain darf weiterleben , auf die Sintflutgeschichte folgt der Regenbogen mit seinem göttlichen Versprechen: Das Leben geht weiter. Ich bin bei euch!

Nun gelange ich beim Weiterblättern zu den Väter- und Müttergeschichten von Abraham, Isaak, Jakob, von Sara, von Rebekka und Rahel. Neben den vielen anrührenden, unglaublich knapp erzählten menschlichen Situationen höre ich immer wieder die Forderung nach der Bereitschaft zum Aufbruch in unbekanntes Land mit der Verheißung: Gott geht mit. Sind wir immer bereit, uns auf neue Wege einzulassen? Und ganz spontan fallen mir dazu auch unsere Flüchtlinge ein. Könnte unter ihnen nicht vielleicht auch ein Abraham oder Jakob sein?

Nun folgen in meiner Bibel die Josefsgeschichten mit den Erzählungen von der Befreiung aus ägyptischer Knechtschaft und der mühseligen Wanderung durch die Wüste in ein unbekanntes, verheißenes Land. Der die Israeliten begleitende Gott hat jetzt einen Namen: JWH / Jahwe. Übersetzt: Ich war/ ich bin/ ich werde sein. Ich würde mich gern einreihen in diesen Zug und unter diesen Namen! Wenn wir uns als Geschwister jüdischer Menschen verstehen, sollten diese Befreiungsgeschichten auch heute unser Denken und Handeln stärker bestimmen: Heraus aus den Zwängen der Knechtschaft durch den globalisierten kapitalistischen Markt in ein Land,“das ich dir zeigen werde“.

Nun geht es in meiner Bibel weiter mit dem 2. und 3. Buch Mose. Da geht es um die Tora, die Weisungen für unser menschliches Zusammenleben. Ich erfahre viel für meinen Alltag. Dazu gehören die 10 Gebote. Sie haben dadurch höchste Priorität erhalten, dass Mose sie trotz des „Goldenen Kalbs“ am Sinai auf steinernen Tafeln empfängt. Hier spricht Gott selber jeden Einzelnen an:“ Ich bin der Herr, dein Gott“. In der damaligen brutalen und auch heute gewaltgeladenen Welt sind sie wie ein Paukenschlag und zugleich eines der größten Geschenke unserer jüdischen Geschwister an uns.

Auch das Sabbatgebot, das sich in irgendeiner Form fast auf der ganzen Welt durchgesetzt hat, ist ein solches Geschenk. Und es gilt für alle, für die damalige Großfamilie, für Knechte und Mägde, für den Fremdling, für das Vieh. Ein jüdischer Spruch sagt: Wenn auf der ganzen Welt der Sabbat eingehalten wird, dann ist der Messias da, Wie lange müssen wir bei den heute sich wieder verschlechternden Arbeitsbedingungen auch heute, sogar in Deutschland noch darauf warten?

In immer wieder neuen Varianten geht es im 2. Und 3. Buch Mose um diese Weisungen, die das Miteinander regeln und die Benachteiligten schützen.

Das lebendig schlagende Herz, das Zentrum des Dekalogs ist seine Zusammenfassung in 3. Mose 19, 18;“ Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, Ich bin der Herr.“ Immer wieder wird dieser Satz im AT und NT sinngemäß oder direkt wiederholt, am eindrucksvollsten von Jesus in der Bergpredigt oder in der Geschichte vom reichen Jüngling.

Diese so einfach klingende Weisung führt jeden von uns täglich auf neue unbekannte Wege.

DARUM: Wenn heute christliche Theologen wieder wie z. Z des Dritten Reiches meinen, auf das AT verzichten zu können mit der Begründung, es sei das Buch einer Stammesreligion während das NT universell zu verstehen sei, kann ich nur den Kopf schütteln.

1, sind für mich schon die oben herausgearbeiteten Aussagen des AT universell und

2, ist der Jude Jesus ohne das AT überhaupt nicht zu verstehen.

Und auf ihn berufen wir uns doch… oder?

Die Gegenposition von Malte Thießen

Der Umgang mit dem alten Testament ist schwierig: Einerseits ist es die Grundlage des jüdischen Glaubens, auf dessen Grundlage Jesus gehandelt und gelebt hat, anderseits ist der Gott, den das alte Testament beschreibt, nicht mein Gott. Gott ist für mich ein Wesen, das uns Menschen trotz all unserer Fehler akzeptiert wie wir sind und bei dem wir Liebe und Schutz finden, wenn wir es brauchen. Der Gott im alten Testament dagegen erscheint oft aggressiv und unberechenbar, arrogant und selbstgefällig.

Das alte Testament beginnt Adam und Eva. Mit dem Biss in den Apfel begeht Eva die Ursünde. Als Folge werden die Menschen aus dem Paradies geworfen und zu einem beschwerlichen und schmerzhaften Leben verdammt, die Frau gegen jede Emanzipationsidee dem Mann unterstellt und schließlich die Schlange ihrer Füße beraubt. Neben der Frage nach der Verhältnismäßigkeit dieser Strafe ist es doch Gott selbst, der Eva verführt, indem er ihr die Möglichkeit zum Bösen eröffnet. Die Tat Evas – das Essen einer Frucht – erscheint demgegenüber als harmlose, geradezu pubertäre Verfehlung, die von Gott maximal bestraft wird. Einen guten Vater gibt Gott hier wahrlich nicht ab. Weiter geht es mit Abraham, dem Gott zwar Isaac in hohem Alter noch als Sohn schenkt, dann aber dessen Opferung fordert, wozu Abraham in blindem Gehorsam bereit ist. Schließlich Kain und Abel, wo der eine Bruder den anderen wegen einer Opfergabe an Gott erschlägt. Auch ist Gottes Handeln unverständlich, der – indem er das Opfer des einen annimmt, des anderen aber verwirft, letztlich selbst die Katastrophe des Brudermordes heraufbeschwört.

Schließlich rettet Gott mit Mose sein Volk und führt es ins gelobte Land. Neben der grundsätzlichen Problematik, wer denn nun sein Volk ist, wird Gott auch noch zum Mörder: Um den Pharao davon zu überzeugen, die Juden ziehen zu lassen, bestraft er die Bevölkerung mit den zehn Plagen. Am Ende tötet er alle Erstgeborenen des ägyptischen Volkes. Der Zweck heiligt die Mittel, die Gerechtigkeit bleibt außen vor. Unschuld schützt vor Strafe nicht.

Mit Hiob treibt Gott es schließlich auf die Spitze: Ein gottesfürchtiger, gerechter Mann wird von Gott als Wetteinsatz mit dem Teufel missbraucht. Gott nimmt ihm alles, tötet seine Angestellten und Kinder, zerstört sein Leben (und das seiner Familie) und als Hiob ihn zur Rechenschaft zieht, reagiert er überheblich mit dem Hinweis auf seine Allmächtigkeit: Er sei Gott und keinem Rechenschaft schuldig. Hiob wird zwar am Ende wieder ein glücklicher Mensch, aber Gott gibt keine gute Figur ab. Er spielt mit Hiob, wie mit einem Tier und als dieser aufbegehrt, verweist er ihn in seine Ecke. Die Kritik stößt auf taube Ohren. Erst als Hiob einlenkt, wird er für sein Gehorsam belohnt. Alles in allem ist dieser Gott kein Gott, dessen Taten verständlich sind und der anbetungswürdig ist.

Man kann sicher für all diese Kritikpunkte weise, theologische Antworten finden. Aber was soll ich mit einem Buch, das mir erst von einem Theologen übersetzt werden muss?

Die Meinung von Ekkehart Thießen

Soll man auf das AT verzichten – so lautet die gestellte Frage. Ich möchte die Frage etwas verschärfen: Kann man auf das AT verzichten?

Meine klare Antwort lautet: nein!

„Höre Israel, der Herr ist unser Gott. Der Herr ist Einer!“

Dies ist das zentrale Bekenntnis des jüdischen Glaubens. Es gibt nur einen Gott, so sagen wir, und das gilt auch für die beiden Testamente. Der Gott des AT ist eins mit dem Gott im NT, auch wenn er uns im NT, so wie wir Christen glauben, in anderer Gestalt – nämlich in der von Jesus – gegenübertritt.

Verzicht auf das AT bedeutet also Verzicht auf ein Stück Gottes.
Verzicht auf die Erfahrungen, die der Erstling Gottes, das Volk Israel (2. Mose 4,22), mit seinem Gott machen durfte. Verzicht auf Erfahrungen, wie Gott in die Geschichte eingreift durch Berufung von Menschen wie Mose und Abraham.
Verzicht auf Erfahrungen, wie man Gott zur Umkehr bewegt (Mose am Berg Sinai).
Verzicht auf Erfahrungen, wie man mit Gott Handel treibt (wie Abraham Gott herunterhandelte von 50 auf 10 Gerechte, um deretwillen Sodom verschont werden soll).
Verzicht auf Erfahrungen, wie man mit Gott ringen und gewinnen kann (Jakob am Jabbok) oder wie Träume wahr werden (Josef).

Die Schöpfungsgeschichte, die Arche Noah, der Turmbau zu Babel, Kain und Abel, Josef und seine Brüder, die Befreiung aus Ägypten, Saul und David, Hiob – das ist alles ist keine Unterhaltungsliteratur, das sind Erzählungen von Gott und damit sind sie ein Teil unserer Erfahrungen mit Gott, ein Teil unseres Gottes.

Und erst die Psalmen! Dieser einzigartige Teil der Bibel, wo die Gesänge des Menschen selbst Teil der heiligen Schrift werden. Nur in Jesus kommt der Mensch Gott so nahe wie in den Psalmen, in denen seine Gebete selbst zu Gottes Wort werden.

Verzicht auf das AT, Verzicht auf den jüdischen Teil der Bibel, Verzicht auf die jüdische Wurzel Jesu?
Das heißt doch gleichzeitig: Verzicht auf die jüdische Wurzel des Christentums.
Explizit verweist Jesus selbst auf die konstante Gültigkeit des jüdischen Gesetzes, der jüdischen Tradition, wenn er sagt: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben, sondern um zu erfüllen.“ Mt. 5,17.

Richtig, die Propheten, die wir in unserer Zeit so schmerzlich vermissen, gingen uns auch verloren.

Verzicht auf das alte Testament? Wir würden viel preisgeben, um weniger zu bekommen.
Wie dumm müssten wir eigentlich sein?